Die Zeiten sind gerade ziemlich verrückt, echt mal. Oder besser: ziemlich anstrengend.
Seit ich hier in diesem Tower wohne, bin ich dabei, mir meine gute Kinderstube
abzugewöhnen. Hätte ich vielleicht doch nicht in ein Haus mit lauter
Eigentumswohnungen, die zudem noch recht zahlreich von ihren Eigentümern
bewohnt werden, ziehen sollen? Ständig hat jemand hier etwas sehr Wichtiges von
sich zu geben. Der Hausmeister, die
Concierges (also Pförtner), Mieter, die vielleicht nichts besseres zu tun haben...Sie
alle tragen eine ungeahnt schwere Last der Verantwortung für das Allgemeinwohl
auf ihren Schultern. Wieso? Nun, Ole ist in den Kienbergtower eingezogen. Schon
als Welpe von 4 Monaten. Von Anbeginn läuft Ole im Haus zwar an der Leine, aber
ohne Maulkorb. Wie übrigens alle Hunde hier, von denen es fast mehr gibt, als
Kinder. Das Spannende an der ganzen Geschichte jedoch ist, dass nur wir, also
der Ole und ich, wegen des fehlenden Maulkorbes angesprochen werden. Nein, das
ist eigentlich nicht ganz korrekt. Ich muss es so sagen: Die Mieter beschweren
sich bei den Concierges und die wiederum übermitteln es mir. Inzwischen habe
ich alle Pförtner gebeten, diesen Kinderkram sein zu lassen und die Mieter zu
mir zu schicken. Das Fazit ist, dass einer der Pförtner sich in seiner Ehre
verletzt fühlt und mir die Türen nicht mehr öffnet. Oder mich laut vor Dritten
maßregelt und mir hinterher ruft, dass der Hund doch einen Maulkorb tragen
sollte…Ein weiteres Fazit ist, dass die Verwaltung mir einen netten Brief
geschrieben hat, in dem sie mir mitteilt, dass sich jemand beschwert hätte,
weil der Hund ohne Leine und Maulkorb durch das Haus liefe und ich sollte doch
meiner Pflicht und Vorbildwirkung als Eigentümer nachkommen…Nun bin ich also
schon zum Eigentümer aufgestiegen – wieso auch nicht?
Aber wieso ich allein? Ich habe die anderen Hundebesitzer gefragt, von denen
wird und wurde noch nie jemand auf einen fehlenden Maulkorb angesprochen. Das
einzige, was an Ole auffällig ist, ist seine Größe. Ansonsten benimmt er sich
völlig unauffällig. Er kläfft nicht, läuft artig neben mir an der Leine,
ignoriert alle Menschen außer jene, die ihn ansprechen, denn in diese verliebt
er sich auf der Stelle. Er geht als großartiges Vorbild für all die Kläffer und
Wadenbeißer durch, mit denen ich schon im Fahrstuhl gestanden habe. Mir wurde so
manches Mal echt mulmig, wenn diese Fußhupen loslegten.
Bereits als Ole 4 Monate alt war, sprach mich so ziemlich um Mitternacht,
wir kamen von der letzten Hunderunde des Tages, eine Mieterin im Fahrstuhl an
und teilte mir im Brustton der Überzeugung mit, dass der Hund einen Maulkorb
bräuchte. Ich war ja etwas verwundert über diese Ansage, denn die Dame stieg um
Mitternacht zu mir in den Fahrstuhl, nicht wir zu ihr. Sie hätte nur 10
Sekunden auf den nächsten warten müssen. Ich hatte diese Frau noch nie zuvor zu
Gesicht bekommen. Um Mitternacht läuft mein Verstand nicht mehr auf Hochtouren.
Ein Glück, wer weiß, was mir sonst so passendes eingefallen wäre auf diese
Ansage. So fiel mir nur ein, ihr mitzuteilen, dass dieser Hund ein Welpe wäre
und mit Sicherheit von mir KEINEN Maulkorb um bekäme.
Letztens, wir waren auf dem Weg zum Fahrstuhl (Ole ist inzwischen 1 Jahr
alt), betrat ein Mieter das weiträumige Foyer und sprach – wahrscheinlich wohl
zu mir - von hinten und im Vorbeigehen etwas wie „…Maulkorb…“. Der Pförtner,
der mir gerade einen Zettel in die Hand drückte, fiel gleich darauf ein: „Ja,
das hab ich ihr auch schon ein paar Mal gesagt!“ und schaute dem Mann
beifallheischend hinterher. Er bekundete damit wohl seine umsichtige
Arbeitsweise für das Allgemeinwohl in diesem Haus und war auf der Suche nach
einem Verbündeten. Besser ist, dachte er sich wohl, denn er bekommt sein Gehalt
ja von all diesen Eigentümern. Ich kannte diesen Mieter zwar nicht, aber ich
bin ziemlich sicher, dass er einer dieser Wohnungseigentümer ist. Ja, die sind
schon sehr speziell hier. Das kannte ich vorher so nicht. Dieser Mann also quetschte
sich dann mit uns und den Worten „Jetzt hab ich aber ein Problem“ in den
Fahrstuhl, während der andere gegenüber leer blieb. Und so hörte ich mir auf
dem Weg nach oben an, dass ich meine Kündigung bekäme, er würde dafür sorgen
und ich würde von ihm hören. Oh ja, das glaube ich sogar aufs Wort! Ich bin nun
gespannt und warte auf das, was da kommt. Möge inzwischen Gott mit diesem
Eigentümer sein. Ich segne ihn und wünsche ihm, dass er einen geeigneten
Therapeuten für alle Probleme findet, die ihn quälen. Amen.
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